Mittwoch, 11. November 2015

Der ESC als Versuchslabor militärischer Konflikte

Vor kurzem überreichte mir jemand fassungslos einen Text aus dem Vereinsheft des ESC-Fanclubs ECG zum russischen Beitrag, geschrieben von Christian Welisch. Der Text, erschienen im August 2015, ist ein Appell, den ESC als eine Polit-Veranstaltung einzuordnen, um Länder wie Russland oder Aserbaidschan endlich offen angreifen zu dürfen. 

So heisst es dort u. a. „Russland habe die Krim besetzt“ und „ein Passagierflugzeug über der Ukraine abgeschossen“. Den Lesern wird erzählt, dass „Homosexuelle in Russland nicht mal Bürger zweiter Klasse sind“, dass Russland versucht „vor der UN in Zusammenarbeit mit islamistischen Diktaturen homosexuellen Mitarbeitern und ihren Partnern die Versorgungsleistungen zu kürzen“ und den „LGBT-Aktivisten Konstantin Golawa ohne Gerichtsverhandlung […] auf eine Terroristenliste gesetzt hat“. „Die russische Unterdrückung Georgiens bis 1989“ und „der Einmarsch im Jahr 2008“ machen die Aufzählung komplett. 

Meine Antwort 

Warum will Christian Welisch seine Politthemen ausgerechnet für unpolitische Schlagerfans in einem als Musikfanclub eingetragenen Verein thematisieren? Oder anders herum: Warum betreiben die Mitglieder ausgerechnet unter dem Schutzmäntelchen eines Schlagervereins verdeckt Politik? 

Ich empfehle Welisch zudem die Tabellen und Links aus Udo Ulfkottes Buch „Gekaufte Journalisten“. Sie weisen darauf hin, dass deutsche Medien nicht weniger propagandistisch sind als die russischen, indem sie einseitig von Interessengruppen der USA, Israel und Nato gelenkt werden. Beim Eurovision Song Contest kann ich dementsprechend nachweisen, wie sich z. B. der NDR für Propaganda den zustimmenden Jubel in Kommentarspalten, Blogs und Fanzines aufbaut, z. B. im Text Mainstream-Musik und Menschenhass

Der hier zugrunde gelegte Text ist ein weiterer Beleg. Er zeigt, wie Schlagerfans nicht nur die einseitige Berichterstattung der „Qualitätsmedien“ übernehmen, sondern auch die politische Geste der moralischen Eckensteher imitieren. Sie maßen sich sogar an, die EBU gegen Russland politisch unter Druck zu setzen: „Ärgerlich ist nicht, dass die EBU für den problematischen Aspekt des Politischen beim Song Contest keine Lösung parat hat, sondern die Tatsache, dass sie dieses Phänomen beharrlich leugnet.“ 

Worin besteht die Überlegenheit der moralischen Eckensteher? 
Sie besteht im blinden Vertrauen auf Medien, die möglicherweise alles andere als unabhängig sind. Sie besteht im Glauben an den Mainstream, an die Wahrheit des Show-Business, an ein blödsinniges Eurovisions-Regelwerk, an verzerrte Votings und erschwindelte Rankings. Das ist eigentlich nur peinlich. Aber Vorsicht: 

Was sich für Außenstehende als ein schlechter Witz darstellt, ist für die schwulen ESC-Fans existenziell wichtig 

20 Jahre lang haben Rundfunkhäuser und Musikindustrie eine trügerisch intime Nähe zu den Fanclubs aufgebaut. Homosexuelle wurden als Parade-Fans in die erste Reihe gesetzt und es wurde ihnen suggeriert, sie seien allein aufgrund ihrer sexuellen Vorlieben die Krönung der abendländischen Zivilisation. Um dies zu begründen bräuchte es keine Erklärung, sondern nur DIE perfekte visuelle Inszenierung à la Dana International (Israel 1998) oder Conchita Wurst (Österreich 2014). 

Mit fortwährender Emotionalisierung, mit Verwässerung der Grenzen zwischen Nähe und Distanz, Bühne und Publikum, Profiteure und Konsumenten, Politik und Unterhaltung, medialer Show und Intimsphäre dürften die Schwulen beim ESC mittlerweile das Gefühl haben, ihre ganzen Persönlichkeitsaspekte stünden auf dem Spiel. Um so leichter kann man ihre Ängste ausbeuten und sie gegen Bösewichter jedweder Art scharf machen. Und die kommen – wen wundert es – ausgerechnet aus den Nicht-Nato-Ländern Russland, Weissrussland, Serbien und Aserbaidschan. 

Durch Hervorhebung des Länderwettstreits, Produzieren von Feindbildern im Osten und im Islam und permanenter Umschmeichelung der Homosexualität wurde den überwiegend männlichen Fans ein hegemonialer Habitus antrainiert. Auffallenderweise verlassen sich weibliche ESC-Fans bislang lieber auf ihre eigene Wahrnehmung und sind weniger bereit Vorurteile bedingungslos hinzunehmen. Dies beweist nicht nur mein Blog, sondern auch ein Artikel im gleichen Vereinsheft zu Polina Gagarina von Margit Herrler. 


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