Donnerstag, 21. März 2013

Eurovision Song Contest - Only champions aus Bulgarien

Während die Rumänen mit einem Crossover von barocker Gesangstechnik und Pop mutig experimentieren, hört sich das Crossover der Bulgaren von Folk, Jazz und Pop weniger als Experiment, sondern mehr als ein Wettbewerbskalkül an. 

Für mich ist ihr Kalkül aufgegangen, denn der Beitrag Samo Shampioni von Elitsa Todorova und Stoyan Yankoulov erfüllt zu 100% meine Hörerwartungen an einen bulgarischen Beitrag in einem Popmusikwettbewerb. 

Er ist mein persönlicher Favorit. 
 


Sie haben schon 2007 mit einem ähnlichen Beitrag "Water" teilgenommen und mit Platz 5 das für Bulgarien bislang beste Ergebnis eingefahren. Der Begriff Wettbewerbskalkül mag für Puristen einen negativen Beigeschmack haben, aber meiner Erfahrung nach gibt es auf dem Balkan nur wenige Puristen. Balkan-Musik höre ich als eine sich ständig entwickelnde Mixtur verschiedener Volkstraditionen und moderner Genre im Spannungsfeld von Marginalisierung und Kommerzialisierung. Dieses Phänomen sowie meine hohe Wertschätzung dafür möchte ich beispielhaft und kurz anhand der Bulgarischen Hochzeitsmusik erklären, und die klingt so

"Only wild ones, only champions
Golden boys and girls for millions
Give us the young ones, give us the happy ones
And the whole village comes, sing, don’t be afraid" (aus: Samo Shampioni)
Stoyan Yankoulov kenne ich von der 2003 erschienenen CD „Fairground“ des berühmtesten Vertreters der Bulgarischen Hochzeitsmusik, Ivo Papasov, auf der Stoyan als Percussionist (Tupan Drum) mitwirkt. Ich habe schon 2007 nicht schlecht gestaunt, ihn ausgerechnet auf der ESC-Bühne zu sehen. Hochzeitsmusik war hinterm Eisernen Vorhang ein Teil der Jugendkultur in Bulgarien. Sie zeichnete sich aus durch Verschmelzung griechischer, mazedonischer, türkischer, serbischer und rumänischer Einflüsse, vor allem aber auch Einflüsse der Roma-Kultur. Komplexe Harmonien, fliegender Tonarten- und Taktwechsel waren ihre musikalischen Merkmale. Die Bands bestanden meist aus 4 – 10 Mitgliedern mit Akkordeon, Klarinette, E-Bass, E-Gitarre, Schlagzeug, Synthesizer, Trompete, Violine, Saxophon, Kaval (Flöte), Gaida (Dudelsack) und Gudulka (3-saitige Laute). Oft kamen noch Frauenstimmen mit ihrer spezifischen bulgarischen Gesangstechnik (Kehlgesang) hinzu, wie ihn Elitsa Todorova auch im ESC-Beitrag vorführt. 

Es ist klar, dass diese Musik in der vom ethnischen Nationalismus geprägten Diktatur Bulgariens verboten war. Im damaligen Bulgarien wurde die Existenz von ethnischen Minderheiten schlicht verleugnet, diese wurden assimiliert, mussten offiziell ihre Kultur und sogar ihre Namen aufgeben. Der Staat förderte nur die „reine“ bulgarische Musik, bestenfalls russische Einflüsse waren erlaubt. 

Genauso leuchtet ein, dass diese Musik mit ihrer Elektrifizierung, Lautstärke, Geschwindigkeit, Virtuosität (je betrunkener, desto schneller), ihren Anleihen aus der westlichen Rock-, Pop- und Jazzmusik die heimlichen Superstars produzierte, und hier war es egal, welcher Minderheit sie zugehörten. Für Nicht-Roma wurde diese Richtung daher sogar doppelt subversiv und beliebt. 

Da diese Musik nicht offiziell gespielt werden durfte, fanden die Konzerte in privaten Zusammenhängen statt, z. B. bei Hochzeiten. Diese Hochzeiten ließ man sich was kosten. Sie dauerten mitunter tagelang und zählten bis zu 2500 geladene wie ungeladene Gäste, auch aus dem westlichen Ausland. Auf diese Weise etablierte sich ausgerechnet im Kommunismus ein Musikmarkt mit einem System von Angebot und Nachfrage, von dem diese Musiker-Stars sehr profitierten. Ivo Papasov wurde schon vor 1989 vom Produzenten Joe Boyd aufgesucht, natürlich nahm Papasov nach 1989 die Zusammenarbeit an und tourte erst mal durch die USA. Bekannt war mir die bulgarische und mazedonische Musiktradition auch durch irische Folkmusiker (Planxty), die sich schon seit 1968 vom Balkan insipirieren ließen. 

Nach dem Mauerfall konkurrieren die Hochzeitsmusiker nicht mehr untereinander, sondern müssen sich der Konkurrenz auf dem internationalen Musikmarkt stellen, und auf diesem Markt bringt es ihnen nicht wirklich was, dass ihre Musik nun sogar legal zu kaufen ist. Mit hervorragenden Improvisationen und atemberaubender Virtuosität sind sie zwar immer noch gefragte Live-Musiker, nur kann sich im heutigen Bulgarien kaum noch jemand große Feste leisten. Ich bin aber sicher: Würde Bulgarien den ESC ausrichten, bekäme man als anreisender Musikfan - besonders außerhalb des ESC-Rahmens – auf Bulgariens Plätzen, in seinen Clubs, Kneipen und Restaurants immer noch genug mit von der bulgarischen Musikszene. 

Ich bin gespannt, ob dieser bulgarische Beitrag über alle politischen Transformationsprozesse hinweg durch unsere sog. ESC-Jury-Experten der TV-Anstalten weiterhin als Minoritätenmusik abgestempelt wird, oder ob man ihnen eine Chance einräumt. Einen bedenklichen Zwischenfall gab es schon: 

Elitsa und Stoyan wurden vom bulgarischen Staats-TV nominiert. Bei der bulgarischen Vorentscheidung stellten sie 3 Musikstücke vor, über die das Publikum und eine Jury entscheiden durfte. 


Insgesamt eine schöne Zusammenstellung, aber wenn man sich diese 3 Stücke anhört, merkt man sofort, welches der von den Musikern bevorzugte Beitrag ist: Samo Shampioni. Aber als Publikumsfavorit wurde dann „angeblich“ Kismet gewählt, ein etwas dröger Beitrag, meiner Wahrnehmung nach eher für die Puristen der reinen bulgarischen Musik. Mir fiel ein Stein vom Herzen, als ein paar Wochen später diese Entscheidung zugunsten Samo Shampionis rückgängig gemacht wurde, mit welcher fadenscheinigen Begründung ist mir offengestanden egal


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Sonntag, 10. März 2013

Gestern bei der rumänischen Vorentscheidung...

3,5 Stunden rauschten wie gefühlte 30 Minuten an mir vorbei, am Schluss gab es ein Ergebnis, mit dem niemand gerechnet hatte. Ich hatte mich vor kurzem über die Abstimmungsmodalitäten geärgert: Sollten die Rumänen sich vorher abgesprochen haben, dann muss ich ihnen ein Lob aussprechen. Diese Abstimmung wirkte einschließlich seines „unberechenbaren“ Ergebnisses mal echt. 

Während des Telefonvotings konnte man mitverfolgen, wie die Anzahl der Anrufe - insgesamt 42567 Anrufe - eingingen und die Summen für die Interpreten in die Höhe gingen – oder eben auch nicht. Platz 1 bis 3 lagen dabei am Schluss eng beieinander. Danach traten die Juroren einzeln vor das Mikrofon und lasen ihr Ergebnis vor. Die Wertungen waren sehr unterschiedlich, aber es kristallisierten sich 2 Favoriten heraus, die beim Publikum eher in der Mitte lagen und sich nun quasi gegenseitig die Punkte wegnahmen. Als dann Publikum- und Juryergebnis miteinander verrechnet wurden, lag der Publikumsfavorit vorne.

Platz 1 hatte mit 20 Gesamtpunkten gewonnen, gefolgt von Platz 2 mit 19 und Platz 3 mit 18 Punkten. Das Wechselbad der Gefühle war den Interpreten während des Votings anzumerken. Statt der üblichen Floskeln wie „Dabei sein ist alles“, „die Show macht großen Spaß“ oder „ich freue mich für meine Kollegen“, entgleisten ihnen die Gesichtszüge, sie zitterten, mussten sich den Schweiß vom Gesicht wischen und gifteten mit Drohgebärden sogar die Juroren an, während der völlig überrumpelte 33 Jahre alte Sieger fast zu weinen begann

Noch mehr Unterhaltung als die Abstimmung bot die technische Umsetzung, die ich schon bei den vorangegangenen Semi-Finale bestaunt hatte. Es gab einen Live-Stream mit gutem Sound, bei dem man die TV-Übertragung mitverfolgte. Zusätzlich dazu wurden den Internetusern mehrere Webcams zur Verfügung gestellt. Eine Kamera vermittelte die Perspektive des Hallenpublikums, eine weitere überwachte den Ein- und Ausgang, die dritte Kamera zeigte den Green Room und zwei weitere ließen ins Foyer blicken, wo sich Presseleute aufhielten, die Künstler kurz vor ihrem Auftritt letzte Schritte einübten, noch mal geschminkt wurden, Kurzinterviews gaben, uns zuwinkten - oder die Zunge heraus streckten ;-) 

Zusätzlich zum Livestream wurde natürlich getwittert, dabei haben rumänische Blogger uns immer kurz mitgeteilt, wen und was wir gerade sahen und worum es in den Gesprächen ging. Irgendwann trat dann auch einer der beobachtenden Blogger, mit dem man kurz zuvor noch geplaudert hatte, vor die TV-Kamera und gab ein Interview. Wow! Ich hatte unentwegt den Eindruck, am Ort des Geschehens zu sein. So eine Art der Übertragung sollten sich auch mal deutsche TV-Macher durch den Kopf gehen lassen, wenn sie sich über mangelnde Einschaltquoten bei z. B. „Wetten, dass?“ den Kopf zerbrechen. 

Nun zum Sieger. In der deutschen Fangemeinde – und ich meine, nicht nur dort - brach das pure Entsetzen aus. Wie konnte das geschehen?! Was hatten sich die Rumänen dabei gedacht? Ich glaube, ich bin die einzige, die diesen Beitrag gut findet, aber ich gestehe, dass sich meine Freude und Faszination auch mit ein wenig Schadenfreude mischt.

An steifer Haltung und Mimik habe ich sofort erkannt, dass Cezar Florentin Ouato lange Jahre Gesangsunterricht gehabt haben muss. Dies wirkt allerdings in der Popmusik, wo doch alles immer so cool und locker rüber kommen muss, ungewollt komisch. Leider ist das Lied für seine Stimme fast zu tief, sein wahres Können zeigt er erst am Schluss, wenn es inbrünstig in die Höhe geht. Die Schlichtheit seines Liedes wird durch die englische Sprache noch unterstrichen, für seine ausgebildete Opernstimme wäre meiner Meinung nach italienisch oder rumänisch passender gewesen. Immerhin führen die mutigen Rumänen nun mit "Cezar The Voice" ein neues Genre beim ansonsten so langweiligen ESC 2013 ein, das man in Bezug auf die vielen bösen und lästernden Kommentare wohl als Kastraten-Pop bezeichnen wird. 



Cezar ist 1980 in Rumänien geboren und in einer Musikerfamilie aufgewachsen. Bereits mit 6 Jahren bekam er Klavierunterricht, besuchte das Konservatorium seiner Heimatstadt Ploiesti und schloss sein Studium am Milaner Konservatorium ab. Seitdem hatte er zahlreiche Opern-Auftritte und wirkt auf bereits 5 Alben (Gluck, Vivaldi, Händel, Cavalli) mit. Nachdem er 12 Jahre in Italien gelebt hat, ist er nach Rumänien zurück gekehrt und möchte im Bereich Pop-Oper arbeiten. Der Komponist seines ESC-Beitrages, Christian Faur, hat bereits 2005 den rumänischen Beitrag für Luminita Anghel geschrieben, mit dem sie 3. wurde. Mögen seine Gesten ruhig einstudiert wirken, mag man über diesen Beitrag lachen oder weinen, dieser Mann lebt von seinem Handwerk und gehört unbedingt auf die Eurovisions-Bühne.


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Sonntag, 3. März 2013

Das Publikum hat keine Lobby

Gerne würde ich hier über die ersten bekannten Beiträge zum ESC 2013 schreiben, aber dafür sind die Beiträge zu schlecht. Bis auf wenige Ausnahmen überbieten sich die Länder genau wie 2010 und 2011 in Einfallslosigkeit. In den Vorentscheidungen treten durchaus interessante Interpreten mit unterhaltsamer Performance auf, die Siegerlieder jedoch sind von einer aggressiven Schlichtheit.

Beispiel Finnland: Statt der jungen Metalband Arion bekommen wir in Malmö Krista Siegfried geboten.

Beispiel Estland: Wochenlang polarisierte die Punkband Winny Puhh das Publikum, am Schluss gewinnt nicht mal ein nettes Lied von Körsikud, sondern ein langweiliges Stück, das dem finnischen in seinen leeren Akkorden und abgedroschenen Kadenzen verdammt ähnlich ist. Diese Beispiele könnte ich mit Island, Spanien, Armenien, Bulgarien, Malta, Schweiz, Österreich, Belgien etc. fortführen.

Im folgenden Text möchte ich die Abstimmungsmodalitäten zur Diskussion stellen mit der provozierenden Frage: Zu welchem Zweck wird das europäische Publikum jedes Jahr in eine Show eingebunden, in der es über Lieder und Interpreten abstimmt, die die Welt nicht braucht?

„Es kommt nicht darauf an, wer was wählt, sondern wer am Schluss die Stimmen auszählt.“ In fast 15 Jahren intensiver Beobachtung konnte und wollte mir niemand die folgende Frage beantworten: Wer kontrolliert eigentlich diese Auszählung? Was ist das für eine Mitbestimmung, wenn das Publikum keine Transparenz und Kontrolle hat, ja, es nicht einmal einfordert?

Bekanntermaßen sind die Ergebnisse einer Publikumsbefragung bei einem Musiktest bzw. Musikwettbewerb nur bedingt Ausdruck von musikalischen Präferenzen. Man misst damit in erster Linie menschliches Verhalten. Ohne Kontrolle und Transparenz sind dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet. Dass der ESC uns Deutschen als ein nicht ganz Ernst zu nehmender Tralala-Wettbewerb verkauft wird, erscheint mir Kalkül, damit keiner genauer hinschaut. Denn immerhin lässt man sich diesen Tralala-Wettbewerb jedes Jahr 2–3-stellige Millionensummen kosten. Um so bedenklicher auch die Tatsache, dass es dazu absolut keinen Musikjournalismus gibt. Man findet ausschließlich PR-Texte, die von Fans massenweise multipliziert werden. Mit der Einführung des Telefonvotings in den 90er Jahren hat man diesen Fans Akkreditierungen und billige Sitzplätze in den ersten Reihen (seit diesem Jahr nur noch Stehplätze) zur Verfügung gestellt, die Fans werden diese kleinen Geschenke natürlich nicht mit kritischen Fragen aufs Spiel setzen.

Deutsche, Hände weg vom Telefon!
Beispiele für Missbrauch konnte man in den letzten Jahren in Deutschland studieren. Seit 2008 fasst der NDR seine Zielgruppe immer enger, sie heißt auf keinen Fall mehr Europa. Thomas Schreiber vom NDR lässt keine Gelegenheit aus, einen Keil zwischen ost- und westeuropäische Staaten zu werfen. Bislang beispiellos in der Geschichte des ESC war die politische Hetzkampagne gegen den musikalischen Konkurrenten Aserbaidschan (gab es nur in Deutschland und in abgeschwächter Form in Schweden!). Wer so eine Kampagne mit politisch nicht legitimierten Menschen aus der Unterhaltungsbranche, im Rahmen eines Tralala-Wettbewerbs, beauftragt und monatelang in überregionalen Medien verbreitet, will auch eine Erfolgsmessung. Da liegt es nahe, sich die Telefonabstimmungen genauer anzuschauen. Folgende Fragen könnte die Auswertung beantworten:

Wie viele Leute waren im Vergleich zu den Vorjahren noch bereit für Aserbaidschan anzurufen?
Für wie glaubwürdig hält man die deutsche Berichterstattung?
Wie erfolgreich lassen sich Dispositionen und Verhalten durch die Medien steuern?

Die Aserbaidschaner sind 2009 sogar noch einen Schritt weiter gegangen und haben Gebrauch gemacht von der Vorratsdatenspeicherung. Sie haben sich diejenigen vorgeladen, deren Abstimmungsverhalten ihnen nicht genehm war. Achtung: Solange es in keinem Land Transparenz gibt, ist moralische Empörung darüber nicht der Politik, sondern nur dem Publikum vorbehalten.

Interessant ist für mich auch die Tatsache, dass die Türkei dieses Jahr nicht am Song Contest teilnimmt, was mit ungerechten Abstimmungsmodalitäten begründet wird. Die deutschen Multiplikatoren deuten dies als einen beleidigten Rückzug, da die Türkei mit der Wiedereinführung der Jury Punkteverluste hinzunehmen hatte. Ich halte dagegen, dass es die Türken genauso gut stören könnte, wenn die Deutschen Jahr für Jahr das Verhalten der türkischstämmigen Mitbürger studieren... Alles fängt unverbindlich und im Spaß an, aber nach jahrelanger Beobachtung wundert es mich offengestanden, dass diese Publikumskontrollen und Auswertungen auf internationaler Ebene überhaupt noch geduldet werden.

Turkey 12 points, Russia 12 points...
Und jetzt die Begründung, warum man zumindest beim ESC nur zum Teil musikalische Präferenzen misst und wie man mit einem Tralala-Wettbewerb politisch Stimmung machen kann:
Von 1956 bis 1997 wurde der Sieger intern durch Juroren ermittelt. Seit 1997 hat man schrittweise das Telefonvoting eingesetzt, das dann einige Jahre später die Juroren vollständig ablöste. Dabei stellte sich heraus, dass Menschen mit Migrationshintergrund gerne und oft für ihre Heimatländer anriefen, wodurch das Ergebnis in manchen Ländern sehr vorhersehbar wurde: Turkey 12 points, Russia 12 points... Das einzig Positive an diesem Phänomen war, dass die Beiträge der so begünstigten Länder immer besser wurden. Der Contest 2007 war zwar für ESC-Verhältnisse von hoher Qualität, aber Westeuropa spielte darin keine Rolle mehr.

Um hier gegen zu steuern, wurde - vor allem auf Drängen der Deutschen - die Jury wieder eingeführt. Und damit begann zugleich der politische Missbrauch. Man hätte ja den Rückschluss ziehen können, das musikalische Niveau westeuropäischer Beiträge zu erhöhen. In Deutschland hätte man sich der Aufgabe stellen können, Menschen mit Migrationshintergrund mehr in die Welt des Boulevard, des Schlagers, der volkstümlichen Musik und in die Vorentscheidungen zu integrieren (in anderen Ländern üblich).
Aber das Ergebnis wird nicht musikalisch, sondern ausschließlich politisch interpretiert. Und statt Integration machen die Deutschen genau das Gegenteil: Sie schüren Vorurteile, indem sie den Migranten und ihren Heimatländern Betrug vorwerfen, der nur von autoritären Experten begrenzt werden könne. Sind aber die Mehrfachanrufe wirklich Betrug?

Da ALLE Teilnehmerländer zum Einsatz einer Expertenjury verpflichtet wurden, wurden - zumindest auf der Ebene der Organisatoren – aus „Feinde“ wieder Komplizen. Diese sogenannten Jury-Experten sind nämlich nicht weniger Interessen geleitet als das Publikum. In den meisten Fällen handelt es sich um Vertragspartner eines amerikanischen Major Labels. Sie scheinen den Contest als eine PR-Maschine aufzufassen, bei dem der Sieg Beliebtheit und Qualität vortäuscht. So kann man wunderbar Ladenhüter und Nichtskönner verramschen – oder sich im kleineren Kreis absprechen und politisch motiviert abstimmen.

Bei so unterschiedlichen Ansätzen und Interessen hätte man mindestens 2 Sieger, einen Publikums- und einen Jury-Sieger, benennen müssen. Stattdessen wird das Publikumsergebnis mit dem Jury-Ergebnis verrechnet. Die Abstimmungsprozedur ist wie folgt: Erst wird das Publikum zum Anrufen animiert, es zahlt – auch bei Mehrfachanrufen – jeden seiner Anrufe und kauft sich symbolisch seinen Beitrag. Damit verdienen Telefonkonzerne und Rundfunkhäuser nicht schlecht. Danach wird das Ergebnis dann aber von der Jury gekippt. Das ist meiner Meinung nach Betrug und als Feedback für Musiker und für die europäische Musikwirtschaft sinnlos. Wozu also das Ganze?

Die Erfolge der so ermittelten Sieger wirken auf mich jedes Jahr wie Hütchenspielertricks. Mag man bei den 3 Minuten im Finale noch vom Trickreichtum fasziniert sein, lässt sich diese Faszination nicht mit Titelverteidigung, Preisverleihungen, Charterfolgen und Zwangspräsentationen in Dauerschleife wiederholen. Mir kommen die ESC-Helden wie Landplagen vor; sie profitieren ausschließlich von einem maschinenhaften, hermetisch abgeriegelten Medienindustriekomplex, der jede Frage, jede Kritik und jeden Zweifel an sich nieder walzt.

Das Publikum hat keine Lobby.
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