Freitag, 13. April 2012

Deutsche Treibjagd um den Eurovision Song Contest dreht auf Vollrausch

In Deutschland gerät der Eurovision Song Contest zunehmend in die Negativschlagzeilen. Die Medien berichten mehr über angebliche Missstände im Austragungsland Aserbaidschan als über Musikstücke und Interpreten. Wer sich intensiver mit Politik und Wirtschaft beschäftigt mag wissen, welchen Zweck diese Politisierung verfolgt. Mir als organisierter ESC-Fan soll das aber egal sein. Nicht die Politik, sondern ausschließlich die Musik ist mein Hobby und es schmerzt, wenn mir mein Hobby durch die Einmischung der Politik zerstört wird.

Beispielhaft für Agitation ist der Spiegel-Artikel Unser Eklat für Baku von Stefan Niggemeier vom 16.02.2012. Schon der Auftakt provoziert: „Zu Gast bei Schurken? Party beim Diktator?“ Diese Polemik zieht sich durch den gesamten Artikel. Die von Niggemeier zitierten Menschen werden wie in einer Inquisition vorgeführt, die Politisierung des ESC und die Aserbaidschan-Frage werden zu reinen Gewissensfragen. „Es ist schwierig, sich da zu positionieren (…), ohne dass man jemanden Unrecht tut“, so die kluge, weil ausweichende Antwort der Musikerin Alina Süggeler (Frida Gold). Das aber nimmt Niggemeier sofort zum Anlass, der ARD auch gleich eins zu verpassen: Diese habe nämlich „bislang darauf verzichtet, das Land (Aserbaidschan) zum Thema zu machen."

Fazit des Artikels: Die Dämonisierung des Orients scheint abgemachte Sache, jetzt müssen nur noch alle in Linie gebracht werden. Seitdem werden die Vorwürfe von Menschenrechtsorganisationen auf Onlinemedien im Stundentakt repetiert. Was den Initiatoren dieser Kampagne dabei aus dem Blickwinkel gerät ist, dass die Wahl ihrer Zielgruppe (Berufsgruppen und private Interessengruppen rund um einen Schlagerwettbewerb) sowie die Art ihrer Berichterstattung mit politischer Rationalität, Information und Aufklärung nichts zu tun haben: Laien werden mit außenpolitischen Themen überrumpelt, ihnen wird eine Positionierung abverlangt, eine Meinung nahegelegt und ein Betroffenheitskult aufgezwungen. Ist das jetzt die hohe Schule der Diplomatie, der Politik? Betroffen macht mich bestenfalls, dass weder die Fanclubs noch die Organisatoren vom NDR oder der EBU diesem offensichtlichen Missbrauch des Eurovision Song Contestes die rote Karte zeigen.

Der unauffällige Weg rechter Ideologien in den Pop-Mainstream
Diese Medienberichterstattung schafft die harmlose, verspielte Unterhaltungsshow ab. Die ehemals eher belächelte Show wurde schon 2009 zur ernsten Angelegenheit deutsch-nationalen Ausmaßes umformuliert. Die Musik tritt in den Hintergrund, hervor gestrichen werden nun Schlagworte wie Emotionalisierung und Länderwettstreit. Nur welche Zielgruppe will man damit erreichen? Nach meiner Beobachtung der letzten zwei Jahre entwickeln sich die ehemals smarten schwulen Fan-Communities mit den früheren Meinungsführern wie Georg Ücker und Thomas Hermanns und ihrem Faible für operettenhafte Ästhetik mehr und mehr zu locker organisierten, aber gut vernetzten Gruppen, die gerade in einem Länderwettstreit ihr Freund-Feind-Schema pflegen können.

Prominentestes und hoffentlich abschreckendes Beispiel ist ein Zitat aus dem Manifest des norwegischen Attentäters Anders Behring Breivik: "Saturday May 14 - Day 13: It's the Eurovision finale today. I just love Eurovision...!:-) It's a lot of crap music but I think it's a great show all in all. I've seen all the semi finals and will take the time of to watch it later today, online. My country has a crap, politically correct contribution as always....I hope Germany wins". Breivik legt in diesem Manifest nicht nur Pfade zur Eurovision, sondern auch zu Politically Incorrekt. Verwirrend? Für mich seitdem ein Grund, die gesamte Berichterstattung einschließlich ihrer Internetkampagnen rund um den ESC mit großer Vorsicht zu genießen.

Rebellen und ESC-Hooligans
Und nun wird ausgerechnet Thomas D, diesjähriger Jury-Chef und Produzent von Roman Lob das deutsche Gesicht einer aktuellen Internetkampagne für mehr Meinungsfreiheit im Gastgeberland des Eurovision Song Contestes in Aserbaidschan. Es ist gut, wenn Musiker ihre Verantwortung Ernst nehmen und sich gegen Missstände aussprechen. Die besten Beispiele für Erfolg lieferten schon zahlreiche Soli-Konzerte. Nur: Im Rahmen eines kommerziellen Länderwettstreites wirkt dieses Engagement bestenfalls wie PR für den deutschen Markt und bewirkt international genau das Gegenteil: Die Entsolidarisierung der Musiker und Fans (OGAE).

Zudem stellt eine solche Kampagne die Organisatoren vor unlösbare Probleme. Was tun, wenn die Gemüter sich aufheizen, die Situation sich destabilisiert, eskaliert? Erste Anzeichen dafür gibt es bereits. So berichtete Ria Novosti am 06.04.2012, dass "Sicherheitskräfte in Aserbaidschan bei den jüngsten Sonderoperationen 17 Mitglieder einer illegalen bewaffneten Gruppierung festgenommen haben, die Diversionen und Terroranschläge auf dem Territorium der Republik geplant hatten [...] mit dem Ziel, die gesellschaftspolitische Stabilität im Land zu untergraben und Panik in der Bevölkerung zu säen." In Folge wurden Fans im Internet mit weiteren geplanten Terroranschlägen auf den ESC verunsichert, die aber von dem aserbaidschanischen Terrorismus-Experten Kamil Salimov noch als unrealistisch eingestuft werden.

Fazit
Mein Eindruck ist, dass Musiker und Fans von dieser Treibjagd überrumpelt werden. Aufallenderweise trug der b. e. Artikel der Frankfurter Rundschau bei der Erstveröffentlichung am 02.04.2012 den Namen Thomas D im Titel, einen Tag später springt uns nur noch sein Foto entgegen. Auch scheinen sich Thomas D und Roman Lob nie zuvor mit dem ESC beschäftigt zu haben. Dann wäre ihnen zumindest die verblüffende Ähnlichkeit ihres gekauften Songs „Standing Still“ mit dem aserbaidschanischem Siegersong des Vorjahres „Running Scared“ aufgefallen: Die gleichen Akkorde, die gleichen Kadenzen, das gleiche Thema, der fast gleiche Titel. Am deutschen Wesen die Welt genesen lassen, und zugleich mit einer Kopie des Feindes an den Start gehen?

Der ESC in Aserbaidschan – Made in Germany
Bei all dem heraufbeschworenen Groll wird völlig außer Acht gelassen, dass sich gerade die Deutschen beim ESC in Aserbaidschan an Mangel über lukrative Aufträge nicht beklagen können. Die deutsche Alpine Bau Deutschland AG und das Berliner Büro Gerkan, Marg und Partner bauen die Baku Crystal Hall, Lichtvision aus Berlin ist für die Lichtgestaltung und Brainpool für die Produktion der Show verantwortlich.


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